Falsche Ausgewogenheit? Eine journalistische Berufsnorm auf dem Prüfstand (2016)

Abstract

Ausgewogenheit (engl. Balance) ist eine etablierte journalistische Berufsnorm in den westlichen Demokratien (Donsbach/Klett 1993: 65; Hallin/Mancini 2004: 216; McQuail 1992: 201). Meist wird sie dahingehend interpretiert und umgesetzt, dass in einer Debatte oder einem Konflikt die beiden dominantesten Akteure oder Positionen gleichgewichtet gegenübergestellt werden (Entman 1989: 30; Gans 1979: 175; Hagen 1995: 120; Tuchman 1972: 665). Allerdings gerät diese Form der Anwendung zunehmend in Kritik, vor allem in den Bereichen der Wahlkampfberichterstattung (Hopmann et al. 2012) und Wissenschaftskommunikation (Boykoff/Boykoff 2004; Clarke 2008). Oreskes and Conway (2010: 214) bringen die Einwände in zugespitzter Form zum Ausdruck: “We’ve noted how the notion of balance was enshrined in the Fairness Doctrine, and it may make sense for political news in a two-party system (although not in a multiparty system). But it does not reflect the way science works. In an active scientific debate there can be many sides but once a scientific issue is closed there is only one “side”. Imagine providing balance to the issue of whether the Earth orbits the Sun, whether continents move or whether DNA carries genetic information.” Im vorliegenden Beitrag nehmen wir diese Kritik zum Anlass, die Ausgewogenheitsnorm auf den Prüfstand zu stellen. Zunächst widmen wir uns den theoretischen Grundlagen und beschreiben die gängige Interpretation der Berufsnorm als Gleichgewichtung. Anschließend illustrieren wir die Defizite der Berufsnorm exemplarisch anhand der drei Problembereiche Politik, Klimawandel sowie Impfungen und Autismus. Schließlich präsentieren wir mit proportionaler Gewichtung, Evidenzbasierung und transparenter Begründung drei mögliche Alternativen zur Gleichgewichtung.

Engesser, Sven; Brüggemann, Michael (2016): Falsche Ausgewogenheit? Eine journalistische Berufsnorm auf dem Prüfstand. In Petra Werner, Lars Rinsdorf, Thomas Pleil, Klaus-Dieter Altmeppen (Eds.): Verantwortung – Gerechtigkeit – Öffentlichkeit. Normative Perspektiven auf Kommunikation. 1. Auflage. Konstanz: UVK (Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft), pp. 51–64.